Es ist an der Zeit, die deutsche Frühpädagogik mit dem Blick auf das, was sich weltweit in Kindergärten und Krippen tut, zu konfrontieren. Es geht darum, durch einen weltweiten Blick innovative Argumente für eine globale Erweiterung der deutschen Didaktik zu sammeln. Ausgangspunkt ist die typische, aber fatale Position: Wir sind in der Frühpädagogik topp! Wenn wir ehrlich sind, betrachten wir die in Deutschland gängige Didaktik der Frühpädagogik als gut und gelungen. Wenn wir uns auf einer pädagogischen Weltkarte positionieren müssten, würden wir uns im Zentrum der Welt verorten. Das ist typisch, aber leider auch fatal, da es den Blick über den Tellerrand verbaut, weil wir nicht das Zentrum Welt sind!
Der Blick in den deutschen frühpädagogischen „Teller“ geht bei mir immer durch die globale Brille – ist also getrübt und eigentlich vielfach konträr – ich kann nicht anders, als ausländische Pädagogiken mit zu denken, wenn ich deutsche Kitas besuche. Nach Reisen durch mehr als 120 Länder dieser Erde habe ich so langsam eine Vorstellung von der Vielfalt der Frühpädagogik Weltweit, die ich in die deutsche Praxis trage. Dabei lerne ich immer wieder, dass es einer genauen Binnensicht bedarf, um eine (vorsichtige) Einschätzung zur Qualität der Frühpädagogik in Deutschland und eines fremden Landes vornehmen zu können. Vorsichtig daher, weil sich pauschale Urteile verbieten, da sie den Differenzierungen nicht gerecht werden. Wie oft ist es mir passiert, dass ich vom frühpädagogischen System eines Landes entsetzt bin, dann aber auf eine oder mehrere Einrichtungen stoße, die sich sehr wohltuend vom Mainstream abheben. In eine solche Einschätzung fließen immer die Lebensbedingungen der Kinder und Familien, der qualitative und quantitative Ausbau von Frühpädagogik und die Arbeitsbedingungen und das Engagement der Erzieherinnen – ein nach Hattie (2013) wichtiges Element pädagogischen Erfolgs.
Je mehr Länder ich bereist habe, umso schwieriger wird es, eine kurze, präzise und (mittelfristig) zuverlässige Antwort auf die Frage zu geben, von welchen Ländern wir lernen können. Aber alle Reisen zeigen deutlich, was wir in Deutschland von der Welt lernen können. Es sind oft nur kleine pädagogische „Mitbringsel“, aber sie verdienen es beachtet zu werden. Die Qualität einer einzelnen Einrichtung oder auch eines nationalen Bildungssystems muss immer aus dem nationalen bzw. regionalen Kontext heraus betrachtet werden. Es ist fatal, die Qualität der Frühpädagogik eines Landes nur nach der papiernen Fassung eines frühpädagogischen Curriculums zu bemessen. Es ist vielmehr erforderlich auch zu betrachten, was wirklich realisiert wird und bei Kindern, Familien und Erzieherinnen ankommt. Das gilt im Übrigen auch für unser eigenes Land. An allen Beispielen wird deutlich, dass die aktuelle Frühpädagogik immer auch ein durch die Geschichte gewachsenes Konstrukt ist. Wie gut Frühpädagogik als politisch-kulturell-soziales Ganzes gelingen kann, wird am Beispiel der Reggio-Pädagogik in Nord-Italien deutlich (Küppers / Römling-Irek 2011, S. 105). In den Anfängen von Reggio zeigt sich bereits der Einfluss von Fröbel – also Deutschland
– und macht damit die Wanderung einer pädagogischen Idee (Küppers 2009) deutlich. Ebenso wie diese für die Montessori-Pädagogik in Deutschland gilt. Es zeigt sich, dass es bei der Realisierung in-stitutioneller Frühpädagogik immer auch darauf ankommt, wie stark der Wunsch der Bürger nach Bildung in ihrem Selbstverständnis verwurzelt ist und wie die ökonomische Situation des Landes aussieht. Gute Frühpädagogik erreicht nicht alle Bevölkerungsteile
gleichermaßen. Die nationalen Bildungsinitiativen erreichen einige Ethnien nur sehr beschränkt. Das zeigt sich besonders bei Nationen mit Ureinwohnern (z. B. Australien), aber auch in Neuseeland (Fthenakis / Oberhuemer
2004) als moderne Nation und in Ecuador als rohstoffreiches Schwellenland. Es gibt also viele Faktoren, die eine gute
Krippe oder Kita in der Praxis bedingen. Es zeigen sich weltweit lokale und regionale Entwicklungen, die sich wohltuend positiv von mangelhaften frühpädagogisch-bildungspolitischen Mindeststandards einer Nation abheben.
Diese sind sehr häufig auf das entschiedene Engagement Einzelner zurückzuführen. Bei meinen Recherchen zeigten sich vor Ort lokale und globale Phänomene, die ich darstellen möchte, denn sie sind Ausgangpunkte der später noch zu beschreibenden Lernaspekte:
1. Phänomen: Es gibt (k)ein frühpädagogisches Gefälle zwischen Nord- und Südhalbkugel, armen und reichen Ländern sowie im Bewusstsein von armen und reichen Bürgern.
Dieser Position liegt ein scheinbar unumstößlicher Glaube an die Überlegenheit der Nordhalbkugel zugrunde. Dass es nicht nur den sogenannten Bildungsnationen gelingt, kindgerechte Kitas und Krippen zu betreiben, zeigen die Beispiele aus Banda Aceh (Indonesien) und Kigali (Ruanda). Es lohnt sich, auch ein „frühpädagogisch-interkulturelles Auge“ auf solche Nationen zu werfen und kleinste Entwicklungen zur Kenntnis zu nehmen. Des Weiteren liegt Neuseeland auf der Südhalbkugel und besitzt ein vorzeigbares und ehrgeiziges, kind- und gruppenzentriertes Curriculum. Es gibt ein frühpädagogisches Gefälle zwischen armen und reichen Ländern. Als Tendenz lässt sich feststellen, dass vor allem die Qualität der staatlichen Bildungsinstitutionen von den ökonomischen, aber auch von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängen. So kann Ecuador als Beispiel dafür dienen, dass es sich bei dem Gesagten tatsächlich nur um eine Tendenz handelt. In dem südamerikanischen Land fließen die Einnahmen
aus den Ölvorkommen nur zu geringen Teilen in den Sektor Bildung. Nicht jedes reiche Land investiert entsprechend seinem Bruttoinlandsprodukt in die Frühpädagogik.
Das arme Kuba investiert erheblich mehr in Bildung und hat damit im Verhältnis zum reichen Nachbarn USA das erheblich bessere Bildungssystem – inklusive Frühpädagogik. Diesen Vorwurf kann man auch Deutschland machen, das zu wenig in seinen wichtigsten Standortfaktor investiert. In reichen Staaten wie Dubai (VAE) und auf Hawaii (USA) spielen die staatlichen Bildungseinrichtungen sogar eine untergeordnete Rolle, denn der Staat hat sich weitgehend aus der Frühpädagogik zurückgezogen. Dort dominieren international agierende private Bildungsträger. Frühkindliche Bildung zeigt sich im Stadt- /Landgefälle und führt u. a. zur Landflucht. In allen unterentwickelten Ländern ist eine Wanderungsbewegung vom Land in die Städte zu beobachten. Dabei wachsen die
Metropolen unendlich und verschärfen dort die soziale, ökonomische, medizinische und Bildungssituation erheblich.
Das frühpädagogische Bewusstsein unterscheidet sich bei armen und reichen Bürgern. Über den Besuch eines Kindergartens, einer Schule oder Hochschule entscheidet in den meisten Ländern der Welt grundsätzlich das Familienoberhaupt. Der kontinuierliche Besuch einer Bildungseinrichtung ist damit immer abhängig von den ökonomischen Gegebenheiten und Erfordernissen – ob aktuell oder perspektivisch. In diesen Ländern haben
wohlhabende Familien zwar die finanziellen Möglichkeiten, aber nicht immer das Bewusstsein für die Bedeutung guter und früher Bildung. In vielen Regionen der Welt müssen die Kinder in das Geschäft der Familie einsteigen, um es später zu übernehmen, obwohl sie anders talentiert und ambitioniert sind. Bei gesicherten Finanzen stehen den Kindern mehr Möglichkeiten zur Verfügung und es können progressive Vorstellungen von guter frühpädagogischer Förderung verwirklicht werden. Zum Beispiel schicken wohlhabende Familien (etwa aus China, Vietnam und Thailand) ihre Kinder in Bildungseinrichtungen nach Australien, in die USA oder nach Europa, damit diese dem staatlichen Drill und schlechten Einrichtungen entgehen. Das führt teilweise dazu, dass hochschwangere
Frauen aus diesen Ländern zum Geburtstermin in Länder reisen, die den Kindern mit der Geburt die Staatsbürgerschaft verleihen. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort geboren sein. Kinder im heutigen Japan genießen vom ersten Tag ihres Lebens ein besonders hohes Maß an Aufmerksamkeit, Hygiene und Förderung.
Das zeigt sich bereits in der vielgestaltigen Frühpädagogik. Leider schließt sich daran ein regelrechter schulischer Drill an und das System missachtet die Bedürfnisse der Kindheit. In den Elendsvierteln der Metropolen (Istanbul (Tarlabasi) /Türkei, Tirana / Albanien, Quito / Ecuador etc) geboren zu werden und aufzuwachsen bedeutet, in jeder Beziehung erheblich benachteiligt zu sein. Andere Kinder haben das Glück, dass ihr Talent von einem
Lehrer, Missionar oder Entwicklungshelfer (Rio Napo / Ecuador) entdeckt und dann besonders gefördert wird. Da die Säuglings- und Kindersterblichkeit in Afrika sehr hoch ist, wird der sechste Geburtstag besonders gefeiert, denn danach verringert sich die Sterbewahrscheinlichkeit deutlich (Kapstadt / Südafrika). Trotzdem bleiben der Mangel und der Kampf ums Überleben schlechte Bildungsbegleiter, auch wenn diese Kinder viel früher selbstständig sind, sich sogar als resilient erweisen.
2. Phänomen: Weibliche Benachteiligung – Nicht weiblich sein
Welcher Wert einer institutionellen frühpädagogischen Bildung beigemessen wird, hängt zwar von den finanziellen Mitteln einer Familie ab, aber er steht auch im Zusammenhang mit dem Geschlecht, dem tradierten Rollenverständnis von Mann und Frau. Dort, wo die Mädchen bereits den Haushalt führen und für die Betreuung der Kinder zu Verfügung stehen müssen, kann auf staatliche Betreuungsinstitutionen verzichtet werden. An einigen
Länderbeispielen (Albanien, Ruanda, Dominikanische Republik) wird deutlich, dass Mädchen nur bedingt zu guter Bildung zugelassen werden. Noch wird den Jungen dort der Vorzug gegeben und es dominiert das Recht der Jungen auf Bildung vor Eignung und Leistung. Diese Tradition ist besonders im südlichen Europa und auf der Südhalbkugel verbreitet und zieht sich besonders tief durch konservative Gesellschaften.
3. Phänomen: Resilienz – über die wichtigen
Anlagen zu verfügen
Resilienz ist die Fähigkeit, mit den Widrigkeiten des Lebens stark umzugehen. Sie ist am Rande der Gesellschaft eine gute Anlage zum Überleben im unwirklichen Umfeld (Quito / Ecuador, Banda Aceh / Indonesien). Kinder leben und lernen auch unter schlechtesten Bedingungen. Was in diesem Umfeld vermittelt wird, hat wenig mit Schulwissen zu tun, aber es macht Kinder stark. Allerdings reicht Resilienz nicht oder nur selten für eine gelingende Bildungsbiografie. Straßenkinder in allen Metropolen weltweit beweisen jeden Tag aufs Neue, dass sie in der Lage sind, mit Cleverness zu überleben und gegebenenfalls auch für eine Familie oder für die Gang zu sorgen. Sie träumen von einem regelmäßigen Schulbesuch, aber nur wenige schaffen es, von ihrem geringen Einkommen etwas für Bildung abzuzweigen. Sie sind vielfach Autodidakten und es ist fatal, diese Kinder von Bildung auszuschließen.
4. Phänomen: Ethnien und Bildungsbewusstsein
Ein Roma-Kind hat in der Regel schlechteBildungsaussichten (Kosovo, Albanien).Maori- und polynesische Kinder werden andersan Bildung herangeführt als die Kinderder Upperclass von Hawaii und Brooklyn. Die
Kinder dieser Gesellschaften werden gemäß ihrer Sozialisation in ein mehr oder weniger rigides Korsett dessen gepresst, was in dieser Ethnie bzw. dieser Schicht an frühpädagogischer Bildung ‚angesagt‘ ist. Die Roma-Familien ziehen ihre Kinder ohne Kindergarten auf, sind „tolerant“ und lassen ihre Kleinkinder rauchen und bringen schon Kleinstkindern bei, zu betteln. Dem gegenüber steht der fest getaktete Tagesplan eines Kindes der New
York Upperclass, das einen Terminplaner braucht, um alle täglichen Termine wahrnehmen zu können. Für polynesische und die Kinder australischer Ureinwohner ist der Bezug zu den Mythen ihrer Vorfahren unabdingbar
mit dem eigenen Leben verbunden. Bildungszeit bekommen: Das „Bild vom Kind“ impliziert in Bildungsgesellschaften unter anderem auch den Faktor Zeit, den wir dem Kind geben, um an Bildung teilzuhaben.
Für das Kind öffnet sich von Geburt an jeden Tag ein kleines Bildungsuniversum und es erwirbt jeden Tag ein kleines Stück mehr vom großen „Weltwissen“. Die Frühpädagogik hat den Faktor Zeit als bedeutsam thematisiert, da es für das Überleben von Bildungsgesellschaften von entscheidender Bedeutung ist, wie optimal wir die Lernzeit für Kinder gestalten. Kindheit ist in den meisten Gesellschaften eine für Eltern frei verfügbare Zeit auf die das Kind kein Anrecht hat und deren Inhalte von den Eltern bestimmt werden. Der Kindergarten in unserem Sinne existiert nicht als eigens konzipierte Spiel- und Bildungseinrichtung. In den meisten frühpädagogischen Systemen wird einfach die Schule mit einem leicht veränderten Curriculum vorgezogen. Das heißt, dass je nach Nation / Region die Schule schon mit vier (K1 / K2 Hawaii / USA) oder erst mit sieben Jahren (Island) oder nur dann, wenn es die familialen Umstände erlauben (Afrika), beginnt. Die Bedeutung des freien Spiels, das wir in Deutschland als selbstverständlichen und wichtigen Teil der Frühpädagogik betrachten, ist in den meisten Nationen sehr begrenzt, organisiert und strukturiert. In einigen Ländern erhält es zudem eine teilweise sehr religiöse Ausrichtung (Laos, Thailand, Indonesien, Dubai) oder ist zeitlich unverbindlich (Namibia, Kenia), je nachdem ob es die Familiensituation zulässt.
Die subjektive Sicht der Dinge. Hat ein Staat ein innovatives frühpädagogisches Curriculum realisiert, dann bedeutet das nicht automatisch, dass alle gesellschaftlichen Gruppen davon profitieren. Maori- und Aborigine-Kinder
(Neuseeland, Australien) wachsen zurzeit immer noch benachteiligt auf, weil in dieser Volksgruppe Bildung im Sinne einer Fortschrittgesellschaft völlig anders gesehen wird. In Gesellschaften, in denen ein innovativer curricularer Konsens dessen herrscht, was Frühpädagogik leisten soll, und in denen Eltern diesen Instanzen zuarbeiten, wird die subjektive Sicht auf die Frühpädagogik abgelöst von einem kollektiven Konsens.
Zwischenerkenntnis
Die skizzierten Phänomene machen deutlich, dass es global sinnlos und auch unmöglich ist, die „beste Kita“ oder das beste frühpädagogische System zu benennen. Aus den oben genannten Phänomen ergeben sich allerdings interessante Aspekte, die eine (deutsche) frühpädagogische Didaktik sinnvoll erweitern könnten. Die in den (Klammern) genannten Länderbeispiele zu den jeweils umrissenen Problemen oder Lernaspekten liegen als Beiträge in „klein&groß Heften“ vor. Wir können von der Welt viel lernen z. B.:
- Engagement, Einfachheit, Demut, Gelassenheit und Leichtigkeit. Beispiele: Das Gehalt kommt nicht (Paraguay, Kongo, Ukraine), ein Sturm hat die Kita zerstört (Indien), Hochwasser verhindert den Besuch der Kinder und Kollegen (Laos) u. v. m. – das heißt, der Problembergist groß und Lösungen sind nicht inSicht. Die Räume, räumliche Ausstattung unddie vorhandenen Spiel- und Beschäftigungsmaterialiensowie Lehr- und Lernmittel sindvielfach sehr einfach. Hier ist es erstaunlich,wie kreativ Kinder und Mitarbeiter/innen denpädagogischen Alltag gestalten. Die Kolleginnenhaben gelernt aus wenig viel zu machen.Uns im reichen Westen bleibt da nur die ggf.hohe Nase zu senken, die abwertende Meinungzu korrigieren und Schritt für Schritt denProblemberg zu besteigen.
• Die relative Bedeutung von Pädagogiken.
In vielen Ländern Europas und weltweit sind Pädagogiken (Montessori, Reggio, Waldorf etc.) nur punktuell bekannt. Hier dominieren nationale Curricula oder traditionelle Erziehungsvorstellungen des Stammes oder der Ethnie. Die Erziehung gelingt im Sinne der Kultur des Volkes. In Afrika sagt man: „Zur Erziehung eines Kindes bedarf es eines ganzen Dorfes“. Und in einem Dorf ist die Erziehung selten einheitlich – für uns also ein unverzeihlicher Bruch, ein Transitionsproblem, das es zu vermeiden gilt. Von daher relativieren sich westliche pädagogische Überzeugungen und wir lernen, dass es gilt sich und seine pädagogische Überzeugung weniger wichtig zu nehmen.
• Engagement und Entscheidungsfreudigkeit versetzt Berge.
In vielen Ländern sinddie ökonomischen, administrativen und bildungspolitischenProbleme in den Einrichtungengewaltig. Die Kolleginnen dort habengelernt unorthodox und schnell Dinge zu entscheiden.Wer das kann, hat große Vorteile.Zudem verlangt es das Tagesgeschäft, vieleDinge zielgerichtet wie auch taktisch/strategischzu entscheiden und dabei die sozialenStrukturen zu bedenken. Weiterhin könnenwir lernen, selbstverständlich Verantwortungzu übernehmen und schnell einen neuenWeg einschlagen, wenn der Alte nicht begehbarist (Odessa/Ukraine).
• Kämpfen mit und für Kinder.
Die Kinderrechte, wie wir sie kennen, gibt es in den meisten Ländern dieser Welt nur auf dem Papier. Zwar haben nahezu alle Nationen die Kinderrechtskonvention unterzeichnet, sind aber von deren Realisierung weit entfernt. Eltern, Kinder und Lehrkräfte müssen oftmals bereits für einfache Dinge kämpfen. Wenn die Bedingungen nicht stimmen, dann lernen die Eltern und Pädagoginnen sich für die Rechte der Kinder einzusetzen. Das Recht auf frühkindliche Bildung ist in den wenigsten Ländern außerhalb der Industrienationen selbstverständlich. Zwar sind die bekannten internationalen Verträge wie UN-Menschenrechts- und Kinderrechtskonvention von der Mehrzahl der Staaten ratifiziert, aber die Realität sieht vollkommen anders aus. Dort kommt nur eine kleine und privilegierte Kinderzahl in den Genuss guter Bildung mit internationalen Standards.
• Grenzerfahrungen relativieren und polarisieren.
Wer in und mit den Extremen den pädagogischen Alltag hat bestreiten müssen, relativiert die Unzulänglichkeiten in Westeuropa sehr schnell. Wenn sich die Kinder in Afrika jedes Mal sichtlich darüber freuen, wenn sie den Lichtschalter betätigen und die Lampen wirklich zu leuchten beginnen, zeigen sich Westeuropäer über dieses Verhalten eher befremdet und amüsiert. Oder wenn sich Kinder freuen, wenn sie zur Schule gehen dürfen, finden wir das weitgehend seltsam.
• Die Bewertung der Bildung in einer Ethnie oder Volksgruppe aus der Geschichte.
Bei Palästinensern und Juden sind die Erfahrungen aus Verfolgung und Vertreibung so prägend, dass die Bedeutung von Bildung für Mädchen und Jungen oberste Priorität erhält (Israel, Jordanien, Palästina). Bildung ist dort etwas, dass jede Flucht und Vertreibung überdauert. Dahinter steht auch ein entsprechendes religiöses und politisches Weltbild, das zwangsläufig Bildung aufwertet.
• Zuviel Technik und Komfort verhindert Einfachheit. Kinder exklusiver Kitas leidenunter dem Druck, dass sie beispielsweisekeine Zeit mehr zum freien Spiel haben(Hongkong, New York, Rio de Janeiro). Dieimmer neueste mediale Ausstattung der Kinderzimmerübersteigt die des Gruppen- undKlassenraums bei weitem. Da die Eltern fürihre Kinder immer nur das scheinbar Bestewollen, lassen sich besonders kommerzielleKitas viel einfallen, um entsprechend ausgerichteteEltern ‚abzugreifen‘. Der UnternehmerArthur Fischer ist ein weltweit anerkannterErfinder mit unzähligen Patenten (Fischer-Dübel) und großer Erfahrung als Personalentwickler.Als Erfinder sei er immer Kindgeblieben – sagt er von sich selbst. Er versuchtdie Phantasie und technische Kreativitätder Kinder mit seinen Fischer-TechnikBaukästen zu unterstützen. Für ihn ist bei allentechnischen Finessen, eine Erfindung genial,wenn sie mit ihrer Einfachheit überzeugtwie z. B. die „Büroklammer“. Bei allem technischenWandel sollte aber unbedingt dasRecht des Kindes auf Kindheit mit Spiel undBildung akzeptiert werden.
• Die Kommerzialisierung der Frühpädagogik wird weltweit zunehmen.
Das gilt besondersan exklusiven Standorten mit einerentsprechend finanzstarken Elternklientel.Wenn mit pädagogisch-exklusiven AngebotenGeld verdient werden kann und ein Marktvorhanden ist bzw. geschaffen werden kann,dann wird sich dieser etablieren. Das bedeutetunweigerlich Wettbewerb, der zu einerSchieflage in der Frühpädagogik führen kann(Shenzhen, New York, Neuseeland). Neuseelandnimmt bereits jetzt mehr durch Bildungseinrichtungenein, als durch irgendeinenanderen Wirtschaftssektor.
• Politischer Wille für eine gute Frühpädagogik.
Ein gutes Beispiel ist Kuba. Das Land ist durch Misswirtschaft und die amerikanische Wirtschaftsblockade nur mit großen Anstrengungen in der Lage, seinen Kindern eine gute Bildung zu geben – aber es gelingt dennoch erstaunlich gut (Kuba). Der reiche, große und mächtige Nachbar USA dagegen schafft es nicht, seinen Kindern gute Bildungseinrichtungen zu bieten. In den USA ist die Analphabetenrate erheblich höher als in Kuba. Wenn in Israel ein Wohngebiet (Israel) entsteht, werden als erstes Kindergärten und Schulen gebaut. In Deutschland kommen Kindergärten irgendwann einmal dazu, falls dann Bedarf ist.
• Die Verbindung von Bildung und Ernährung.
In vielen Ländern (u. a. Gambia) sind Kinder nur zu erreichen, wenn es in den Kindergärten kostenloses Essen gibt, denn dann entlasten sie den Geldbeutel der Eltern erheblich und dürfen die Einrichtung besuchen. Während wir uns Gedanken machen, welche Ernährung für Kindergarten-Kids die Beste ist und wie wir das Übergewicht bekämpfen, ist dies in den meisten Ländern eine Frage der wirtschaftlichen Möglichkeiten (China).
• Das richtige Maß an emotionaler Zuwendung.
In vielen Ländern gibt es zwar rudimentäre Bildung, diese wird aber in einem lieblosen und oftmals angstbesetzten Kontext, d. h. mit Prügel und vielen Strafen vermittelt. In Asien (Japan, Korea, China, etc) ist Druck (Bsp. Tiger-Mama) ein wesentliches Mittel zur Erreichung von Lernzielen. In anderen Ländern (Spanien) werden Kinder so übertrieben gelobt, geliebt, exponiert und verwöhnt, dass es verstörend ist. Diese Extreme fokussieren uns auf das richtige Maß der Zuwendung.
• Frühkindliche Bildung und die Ausbildung, Bezahlung und Arbeitsbedingungen des Fachpersonals.
Die Ausbildung des Fachpersonalsin der Frühpädagogik divergiert extrem.Es gibt Länder, da ist das Personal nicht nurnicht ausgebildet, sondern hat nur den landestypischenSchulverlauf aufzuweisen. Das sindoft vier Jahre max. Schulbesuch (Kongo, Gambia,Laos etc). Diese Kräfte können lesen,schreiben und rechnen, und dieses Wissen gebensie – so gut sie können – weiter. Eine Ausbildungfür die Frühpädagogik gibt es in vielenLändern der Welt (noch) nicht (Marokko). Nurin den Hauptstädten und Wirtschaftsmetropolensind Ausnahmen zu finden. I. d. R. werden
Fachkräfte aus dem Ausland engagiert (Dubai, Senegal etc). Eine regelmäßige und leistungsgerechte Bezahlung des pädagogischen Personals ist selten und fällt in die Beliebigkeit der Politik (Ukraine). Von daher verkaufen die
Ehefrauen der Pädagogen an die Kinder Essen, Süßigkeiten etc. Normalität ist das Warten auf das Gehalt (Kongo, Paraguay), Zusatzverdienste durch Zweit- und Drittjobs (Gambia, Indonesien oder Vorgesetzte haben sich mit den
Gehältern ganzer Schulen aus dem Staub (Kongo) gemacht. Es gibt sogar Lehrkräfte, die haben gemeinsam mit den Kindern und anderen Dorfbewohnern eine Vor- und/oder Grundschule gebaut (Togo).
• Nicht behindert sein.
Die Bedeutung inklusiver Pädagogik ist weltweit ganz unterschiedlich angekommen. In den meisten Ländern hat der Begriff und die Thematik keine Bedeutung – und erst Recht nicht in unserem Sinne. Wenn behinderte Kinder Glück haben, dann dürfen sie in den Einrichtungen mitlaufen. Ansonsten werden sie vielfach ausgegrenzt, da die logistischen Bedingungen einfach nicht gegeben sind. Diese Kinder können keine weiten Wege gehen, rudern oder transportiert werden.
• Bessere Betreuungsschlüssel, d. h. Individualität versus Kollektivität.
Wer sich in dieNähe einer Dorfschule und/oder eines Kindergartensbegibt, der hört bereits aus der Fernedie Vielzahl der Kinderstimmen. In vielen Ländernhören wir allerdings die Kinder im ChorZahlen, Buchstaben oder sonstigen Unterrichtsstoffnachsprechen. Oftmals sind die Kindergruppenüber 50 Kinder groß und die Einrichtungenverfügen nicht einmal über eine Minimalausstattung (Tafel, Stifte, Papier, Tische und Sitze). Individuelle Förderung ist hiergänzlich unbekannt, nicht gewollt und sogarfür den Einzelnen fatal (Malawi). In den Industriestaatendagegen vernehmen wir denLärm kindlichen Spiels und kreative Stille.
• Der Trend, Kinder früher mit Schule anstatt mit eigener Frühpädagogik zu fördern nimmt zu. Ursache dafür ist das englisch-amerikanischeBildungssystem – ein viel zu oft exportiertesNegativbeispiel. Aus diesen Bildungsnationenstammt die Mär, dass es gut ist, Kinder bereitssehr früh in ein schulisches System zu integrieren.Selten gelingt es daraus guteKombinationen aus Spiel und Bildung zu kreieren(Gibraltar, Großbritannien, Niederlande).
Fazit
Der globale pädagogische Blick über den Tellerrand darf nicht klassisch verklärt sein, sondern neugierig, selbstverständlich, analytisch und lernend. Die Auseinandersetzung mit der Frühpädagogik anderer Länder ermöglicht einen professionellen Paradigmenwechsel. Damit verändern sich alte Einstellungen und neue Positionen werden gleichermaßen beweglicher. Mit der Zeit wird die Position und Sicht nicht folkloristisch idealisiert, vielmehr entsteht eine selbstverständliche und dauerhaft suchende Neugierde. Diese ist analytisch, bejahend und lernend im Sinne von lebenslangem Lernen, Innovationen suchend. Die oben skizzierten Phänomene und die daraus resultierenden Aspekte zeigen deutlich, dass es keine allgemein gültige Aussage geben kann, welche Frühpädagogik weltweit besonders zu beachten ist, denn aus vielen Länderbeispielen lassen sich sehr viele sinnvolle Aspekte isolieren. Das erfordert den selbstverständlichen Blick über den viel zitierten „Tellerrand“. Dazu müssen wir uns im deutschsprachigen Raum die Mühe machen, viele frühpädagogische Beispiele weltweit zu sichten, um daraus geeignete qualitative Impulse zu erhalten. Unsere Sicht der Frühpädagogik erhält eine neue Dimension – weltwärts.
Mit dieser zusätzlichen Sicht wären wir gut gerüstet für eine innovative Frühpädagogik, die die Herausforderungen des dritten Jahrtausends offen annimmt – der Kinder wegen!
Horst Küppers
Literatur
Fthenakis, E. W. / Oberhuemer, P. (2004): Frühpädagogik international – Bildungsqualität im Blickpunkt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Hattie, J. (2013): Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag.
Küppers, H. (2009): Lebensorte gestalten. Die Reggio-Pädagogik von Fröbel beeinflusst, in: klein & groß 4, S. 8-10
Küppers, H. (2008): Zeitgemäße Bildung – Zweisprachige Erziehung als Bildungsauftrag – Anforderungen an die Ausbildung von Erziehern. In:KiTa-Spezial 1, S. 3638
Küppers, H. (2009): Erziehernetzwerk für Europa. In: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik 5, S.3437
Küppers, H. (2009): Fachschulen mit Europaschwerpunkt – Praktikum in sozialpädagogischen Einrichtungen anderer Länder. In: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik
Küppers, H. / Römling-Irek, P. (2011): Die Auseinandersetzung mit der Welt – Praxis und Theorie der reggianischen Projektarbeit. Troisdorf: BildungsverlagEINS
Küppers, H. (2012): Europa-ErzieherInnen: Fit und gefragt auf dem Arbeitsmarkt. In: Erziehung undWissenschaft Schleswig-Holstein 5, S. 10
Küppers, H. (2013): Eine Reise durch die Kitas in aller Welt. Was Deutschland von anderen Lernen kann. Weinheim: Beltz Verlag.
Trutschel, C. (2012): Erzieher für Europa. In: Kieler Nachrichten – Journal, 05.05.2012
Weiterführende Links
UNESCO: Early Childhood Care and Education
http://www.unesco.org/new/en/education/streng
thening-education-system/early-childhood/.
UNICEF: Early Childhood,
http//www.unicef.org/earlychildhood/index_3870
.html.
Bildungsinternationale (2006) Erklärung zur Qualität
der frühkindlichen Bildung
http://www.gew.de/Binaries/Binary28027/BI_GE
W-deu-2.pdf
Horst Küppers
OStR Koordination der
Europaklassen für Erzieher und Erzieherinnen
Elly-Heuss-Knapp-Schule
(Europaschule) in Neumünster
Email: ho.kueppers@web.de
Website: www.kueppers-info.de